Ding, Werk und Zeug (M. Heidegger)
Februar 28, 2024Der Aufstand der Dinge
Vom Mythos über den Aufstand der Dinge berichtet zum Beispiel der Ethnologe Walter Krickeberg (1928). Nach dem von Krickeberg dokumentierten Mythos werden die nützlichen, vertrauten Dinge des Alltags plötzlich lebendig und zugleich bedrohlich für den Menschen. Der diesen Mythos bebildernde Fries (siehe unten) zeigt Löffel und Teller, Gürtelspange und Silberschmuck mit Armen und Beinen versehen und im Laufschritt. Mit Waffen in der Hand sind sie im Begriff, die in ihren Häusern schlafenden Menschen zu attackieren.
Diese Geschichte für sich allein wäre nicht mehr als eine zufällig mit dem Thema materielle Kultur in Verbindung stehende Anekdote, wenn nicht 50 Jahre später Erhart Kästner den "Aufstand der Dinge" zum Titel eines Romans gemacht hätte. Ohne den historisch belegten Mythos zu kennen, erfindet er eine ähnliche Szene, in der die Dinge den unausgesprochenen Vertrag mit den Menschen kündigen, in einen Streik treten und sich vom Menschen "wegziehen". Kästner intendiert damit zugleich eine Kritik am modernen Umgang mit den Dingen, an dem Nur-noch-rationalen im Umgang mit den Dingen. Dinge, so Kästner, die nur noch als "funktionierend" gesehen werden, die nur noch als Maschinen-Automaten dem Menschen dienend gegenübertreten, sind eigentlich schon abgestorben.
Eine überraschende bedrohliche Art der Lebendigkeit von Dingen ist auch die fiktionale Ausgangssituation der Erzählung "Dinge" von José Saramago. Die zu Dingen gewordenen Menschen artikulieren ihren Protest durch ihren Entzug aus der gewohnten Umwelt des Menschen. Das hat dramatische Konsequenzen. Das Leben wird unkontrollierbar, die Gesellschaft fühlt sich bedroht, man erklärt den Dingen den Krieg. Es ist ein Krieg, der nicht zu führen und nicht zu gewinnen ist. Saramago gelingt es, mit dem provozierenden Szenario seiner Geschichte den Leser ein Stück weit in dessen Alltagswahrnehmung der materiellen Umwelt zu irritieren
Kästner findet Belege für seine Kritik an der Wahrnehmung der Dinge auch in der modernen Kunst. Er verweist auf die provozierenden Werke Duchamps, der Alltagsobjekte durch die bloße Plazierung im Museum zu Kunstwerken deklariert, und auf Rene Margritte, dessen gemalte Objekte einen im Bild unauflöslichen, quasi eingefrorenen Widerspruch zu den beigegebenen Worten ("Ceci n'est pas une pipe", M. Foucault, 1963) enthält. Die Dinge in ihrer Art wirklich wahrzunehmen, so Kästners Intention, braucht Zeit und Vertrautheit mit den Dingen. Diese komplexe Ebene der Wahrnehmung erschöpft sich nicht im Wissen über Bedeutung, Funktion und Technik.
Solche Feststellungen sind nicht weit entfernt vom Anliegen Bruno Latours, der im "Parlament der Dinge" ausführt, wie sehr die Natur der Dinge abhängig ist von der Wahrnehmung des Menschen und nicht, wie anzunehmen wäre, von den Dingen selbst. Deshalb, so Latour, müßten die auch die unbeachteten Dinge zu Wort kommen, um wirklich herauszufinden, was ihre Natur ist und was nicht.
Kästner und Latour stellen die Wahrnehmung der Dinge in den Vordergrund. Beide betonen die große Abhängigkeit der Wahrnehmungsart von den herangetragenen Einstellungen und auch vom Umgang mit den Dingen. Während das bei Kästner in eine Kulturkritik insgesamt mündet, hebt Latour die enge Beziehung dieser Problematik zur Diskussion um ökologische Verantwortung hervor. Die Tatsache, daß beide – unabhängig voneinander – den Verlust der Sensibilität für Dinge betonen, ist zugleich eine Art von Wissenschaftskritik, die aus der Beschäftigung mit materieller Kultur resultiert.